Text von Tobias Lippuner, Student UZH, Tsinghua und ETH
geschrieben im Rahmen der Vorlesung Sportpsychologie von Dr. H. Gubelmann ETH
Einleitung Persönliche Erfahrung
Im Sommer 2024 trainierte ich fünf Wochen lang im Shaolin-Tempel Yunnan in China mit anderen internationalen Trainierenden unter der Leitung authentischer Shaolin-Meister (Shifus). Die strenge Tagesstruktur, bestehend aus Meditation, Kung-Fu-Techniktraining und kraftintensiven Übungen, prägte meinen Alltag. Besonders intensiv war das wöchentliche „Hard QiGong“-Training, bei dem wir durch Schläge auf Bauch, Rücken und Arme unseren Körper abhärteten. Auch tägliche Lauf- und Kraftübungen in der Gruppe waren Pflicht – eine Herausforderung, die nicht nur körperliche, sondern auch mentale Stärke erforderte. Diese Erfahrung inspirierte mich, die Verbindung vom Kung Fu der Shaolin zur pädagogischen Sportpsychologie zu untersuchen.
Pädagogische Sportpsychologie im Kontext der Shaolin-Kultur
Die pädagogische Sportpsychologie zielt darauf ab, durch sportliche Aktivität sowohl körperliche als auch psychische Entwicklungsprozesse zu fördern (Alfermann & Stoll, 2017). Diese Grundidee spiegelt sich in der Shaolin-Tradition wider, in der Kung Fu als Lebensweg verstanden wird. Die wörtliche Übersetzung von "Kung Fu" aus dem Chinesischen ist “Fähigkeit, die durch harte Arbeit erlangt wird” (Yanjun, 2024). Training ist in der Kultur der Shaolin Mönche weit mehr als sportliche Betätigung: Es ist ein Werkzeug zur Kultivierung einer stabilen Persönlichkeit.
1. Persönlichkeitsentwicklung durch sportliche Erziehung
Die Shaolin-Mönche vermitteln durch Kung Fu eine ganzheitliche Erziehung, die körperliche Stärke mit innerer Ausgeglichenheit kombiniert. Die Erziehung erfolgt durch strenge Disziplin, feste Rituale und symbolische Übungen wie das Hard QiGong. Dabei wird der Körper durch kontrollierte Schläge abgehärtet, was sowohl physische als auch mentale Resilienz fördert.
In der Sportpsychologie wird die Persönlichkeitsentwicklung durch sportliche Aktivität als Förderung von Selbstkontrolle, Disziplin und Durchhaltevermögen beschrieben (Alfermann & Stoll, 2017). Studien zu Kampfkünsten zeigen, dass diese Trainingsform positive Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, einschließlich verbesserter Stressbewältigung und gesteigerter sozialer Kompetenzen (Moore et al., 2020).
2. Trainer-Athlet-Beziehung: Vertrauen und Respekt
Die Beziehung zwischen einem Shifu und seinen Schülern entspricht in vielen Aspekten der Trainer-Athlet-Beziehung, wie sie in der Sportpsychologie beschrieben wird. Doch ein Shifu ist nicht nur Trainer, sondern auch Vorbild und moralischer Führer. So ist die wörtliche Übersetzung von"Shifu” auch "Meister-Vater". Der Respekt vor der Autorität des Shifus ist im Shaolin-System tief verwurzelt und wird durch Rituale wie Verbeugungen und Schweigepflicht unterstrichen (Yanjun, 2024). So wurde nach jedem Training eine Reihe vor dem Shifu gebildet, wobei alle Trainierenden zweimal klatschen, sich für das Training bedanken und kurz verneigen.
Nach Alfermann und Stoll (2017) basiert eine erfolgreiche Trainer-Athlet-Beziehung auf Vertrauen, Respekt und klaren Rollenerwartungen. Im Shaolin-Tempel wird dieser Respekt durch Gehorsam und Disziplin ausgedrückt. Die klare Rollenverteilung bietet den Schülern psychische Sicherheit und fördert gleichzeitig die persönliche Entwicklung.
3. Intrinsische und extrinsische Motivation
Im Shaolin-Kung-Fu basiert die Motivation der Schüler, die sich aus eigenem Willen für das Training entschieden haben, vor allem auf intrinsischen Faktoren wie dem Wunsch nach Selbstverbesserung und innerer Harmonie. Intrinsische Motivation wird in der Sportpsychologie als die stärkste und nachhaltigste Antriebsform angesehen, da sie aus persönlichem Interesse und Freude an der Tätigkeit resultiert (Ryan & Deci, 2000). Extrinsische Motivation, wie etwa Wettkampfpreise, spielt im Shaolin-Kung-Fu traditionell kaum eine Rolle. Ein bekanntes Zitat von Bruce Lee unterstreicht diesen Ansatz:"Kung Fu is not about beating others. It’s about conquering yourself."Dennoch gibt es moderne Wettkämpfe, bei denen Shaolin-Kämpfer an internationalen Meisterschaften teilnehmen, was extrinsische Anreize schafft.
Das Streben nach persönlicher Meisterung, wie es im Shaolin-Training vermittelt wird, entspricht der Idee der „Mastery-Orientation“, die in der Sportpsychologie als wesentlicher Faktor für Erfolg und Zufriedenheit gilt (Alfermann & Stoll, 2017).
4. Mentale Stärke durch Chan-Meditation und Chan Wu Yi
Die Chan-Meditation (Zen-Meditation) ist ein wichtiger Bestandteil des Shaolin-Trainings. Diese meditative Praxis fördert Achtsamkeit und Konzentration, zwei zentrale Elemente der sportpsychologischen Leistungsoptimierung (Weinberg & Gould, 2019).
Die Meditation umfasst stille Sitzpraktiken und bewegte Übungen wie das „Standing Meditation“ (Zhan Zhuang). Hierbei wird der Körper für lange Zeit in einer stabilen Position gehalten, um die Willenskraft und mentale Ausdauer zu stärken (Yanjun, 2024).
Kung Fu lehrt, dass körperliche und geistige Entwicklung untrennbar miteinander verbunden sind. Diese Philosophie wird oft durch die Praxis des „Chan Wu Yi“ – der Kombination aus Meditation (Chan), Kampfkunst (Wu) und Heilkunde (Yi) – veranschaulicht (Yanjun, 2024). In der modernen Welt kann diese Lehre nicht nur für Athleten, sondern für jeden, der ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist sucht, angewendet werden. Die Praktiken des Kung Fu helfen, Konzentration und innere Ruhe zu fördern, was laut Shaolin-Meistern ein Schlüssel zur Selbstdisziplin und langfristigem Erfolg ist.
Fazit
Die pädagogischen Prinzipien des Shaolin-Kung-Fu bieten einen einzigartigen Einblick in die ganzheitliche Förderung von Körper und Geist. Die Disziplin und die Werte, die durch das Training vermittelt werden, entsprechen in vielerlei Hinsicht den Grundsätzen der modernen pädagogischen Sportpsychologie. Besonders der Fokus auf intrinsische Motivation, Persönlichkeitsentwicklung und mentale Stärke zeigt, dass westliche Trainer und Athleten viel von der traditionellen Shaolin-Praxis lernen können – nicht nur im sportlichen, sondern auch im lebenspraktischen Sinne.
Anhang
Quellen
Alfermann, D., & Stoll, O. (2017). Sportpsychologie: Ein Lehrbuch in 12 Lektionen (5. Aufl.). Aachen: Meyer & Meyer.
Moore, B., Dudley, D., & Woodcock, S. (2020). The Effect of Martial Arts Training on Mental Health Outcomes: A Systematic Review and Meta-Analysis.
Journal of Sport and Exercise Psychology, 42(3), 215-230.
DOI: 10.1016/j.jsep.2020.01.003
Ryan, R. M., & Deci, E. L. (2000). Intrinsic and Extrinsic Motivations: Classic Definitions and New Directions.
Contemporary Educational Psychology, 25(1), 54-67.
DOI: 10.1006/ceps.1999.1020
Weinberg, R. S., & Gould, D. (2019). Foundations of Sport and Exercise Psychology (7th ed.). Champaign, IL: Human Kinetics.
Yanjun, S. S. (2024). Yunnan Shaolin Temple Warrior Monks Training Center Training Manual. https://shaolintemple.com/head-master-shifu-shi-yanjun/
Titelbild aufgenommen in der Old Town Village von Xingtai, Sommer 2024.
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